Sprachdeprivation? Was ist das? Was hat es für Folgen? Ist dein Kind betroffen? Wer kann was dagegen tun? Antworten auf diese und weitere Fragen bekommst du im Artikel.
Inhaltsverzeichnis
1. Was ist Sprachdeprivation?
2. Wie kommt es zur Sprachdeprivation für hörbehinderte Kinder?
3. Was bedeutet das für die Sprachentwicklung?
4. Hat Sprachdeprivation auch Auswirkungen auf das Gedächtnis?
5. Was sind die sozial-emotionalen Folgen?
6. Sprachdeprivation als Ursache für geringe Bildung?
7. Ist dein Kind gefährdet?
8. Was können wir gegen Sprachdeprivation tun?
Sprachdeprivation – vielleicht hast du schon davon gehört? Sprachentzug: Meist denken wir dabei an extreme Einzelfälle. Doch so selten ist das leider gar nicht. Was ist Sprachdeprivation? Wie kommt es dazu? Was sind die Folgen und ist dein Kind gefährdet? All das erfährst du im Artikel.
1. Was ist Sprachdeprivation?
Der Begriff kommt aus dem Lateinischen: deprivare = berauben. Wer Sprachdeprivation erlebt, wird also der Sprache beraubt. Das kann unterschiedlich zustande kommen. Es geht von fehlender sprachlicher Stimulation bis hin zu kompletter sprachlicher Isolation. Vielleicht sogar über einen längeren Zeitraum.
Extremfälle hast du möglicherweise schon mal in Berichten mitbekommen: Sogenannte „Wolfskinder“. Das sind Kinder, die ausgesetzt wurden. Oder auch über längere Zeit eingesperrt waren. Dabei hatten sie keine Sprachkontakte. Die Sprache wurde ihnen entzogen – geraubt.
Wenn wir von solchen Fällen hören, sind wir geschockt. Doch leider müssen wir gar nicht solche Ausnahmefälle suchen – wenn wir wissen wollen, was Sprachdeprivation bedeutet.
2. Wie kommt es zur Sprachdeprivation für hörbehinderte Kinder?
90 % aller Kinder mit Hörbehinderung haben hörende Eltern. Schwerhörige und gehörlose Kinder werden also meist in ein hörendes Umfeld geboren. Das bedeutet auch, dass diese Familien in der Regel noch keine Gebärdensprache können. Somit steht zu Anfang erst einmal die Lautsprache als Familiensprache zur Verfügung.
Je nachdem, welchen Hörverlust das Kind hat, wird es in der Folge mit Hörgeräten oder auch mit Cochlea-Implantaten (CI) versorgt. Ob und wie gut das Kind damit in die Lautsprache finden wird?
Das kann niemand vorher mit Sicherheit sagen.
Die Eltern hoffen natürlich, dass das Kind mit den Hilfen hören kann. Und später auch sprechen wird. Sie unternehmen so vieles für ihr Kind. Und nach der Diagnose „Hörbehinderung“ haben Familien unzählige Termine, bei
- Ärzten
- Therapeuten
- Fachärzten
- Logopäden
- der Frühförderung
- Akustikern
- Kliniken
- Ämtern
- und vielen mehr.
Viele dieser Spezialisten unterstützen die Eltern. Gleichzeitig haben sie alle ihr Spezialgebiet – eine neutrale Beratung gibt es leider selten. Und wirklich Bescheid über die Gebärdensprache wissen die allerwenigsten. So erlebe ich es immer wieder, dass Eltern von der Gebärdensprache abgeraten wird. Das ist grob fahrlässig und gefährdet das Wohl dieser Kinder. Wie, das wirst du hier noch lesen.
Wir haben also ein hörbehindertes Baby und hörende Eltern, die nur sein Bestes wollen. Die tausende Termine wahrnehmen, um ihr Kind so gut wie möglich zu unterstützen und zu fördern.
Gleichzeitig fehlt unter Umständen die Möglichkeit, die richtigen sprachlichen Impulse zu geben. Gebärdensprache ist noch eine komplette Fremdsprache und möglicherweise wird den Eltern geraten, nur lautsprachlich mit dem Kind zu sprechen.
Auch wenn die Eltern Gebärdensprache lernen wollen: Das ist nicht einfach hinzubekommen. Es müssen Anträge gestellt werden. Sie müssen auf Dozentensuche gehen und auch noch die Zeit finden, möglichen Unterricht zeitlich unterzubringen: Zusätzlich zu all den Terminen, die sie schon haben.
Parallel können sich im Gehirn ihres Babys jeden Tag Hunderte neuer Verknüpfungen bilden – auch für die Sprache. Dafür braucht es aber Input.
Wenn den Eltern nun die Worte fehlen – weil sie noch nicht gebärden können –, gibt es auch keinen sprachlichen Input. Vielleicht sprechen sie auch mit ihrem Kind – und es kann sie nicht (richtig) hören.
Selbst wenn das Kind technisch gut versorgt ist kriegt es lautsprachlich immer weniger mit, als ein hörendes Kind.
Ein Kind mit Hörgeräten oder CI ist kein hörendes Kind!
Ein schwerhöriges oder gehörloses Kind hörender Eltern bekommt also immer weniger sprachliche Impulse als ein hörendes Kind in derselben Situation. Es kann nicht „nebenbei“ hören. Wenn du im Nebenraum mit einer Freundin sprichst, lernt dein hörendes Kind nebenbei etwas. Je nachdem, worüber ihr sprecht. Dein hörbehindertes Kind lernt das nicht, weil es das Gespräch gar nicht (richtig) mitbekommt. Es hat viel weniger sprachlichen Input.
Möglicherweise hört dein Kind auch keine Sprache? Vielleicht weißt du es auch noch nicht?
Dann braucht ihr umso mehr die Gebärdensprache – damit sich dein Kind gut entwickeln kann.
Kinder brauchen sprachlichen Input – in einer für sie geeigneten Sprache. Das Umfeld der allermeisten schwerhörigen und gehörlosen Kinder bietet zunächst die Lautsprache. Nur selten gibt es ein gebärdensprachliches Angebot.
So kommt es, dass die meisten dieser Kinder unter Sprachdeprivation leiden – in unterschiedlichem Ausmaß.
3. Was bedeutet das für die Sprachentwicklung?
Für die Sprachentwicklung ist es entscheidend, dass das Gehirn deines Kindes in den ersten Lebensjahren auch stimuliert wird. Hier gibt es eine kritische Phase, in der das besonders wichtig ist. Diese Phase wird auch als Sprachfenster bezeichnet.

Du möchtest mehr über diese kritische Phase der Entwicklung erfahren? Dann hilft dir dieser Artikel weiter:
Fehlt das sprachliche Angebot in dieser Zeit, dann hat ein Kind keine Chance, zu verstehen, wie Sprache funktioniert: Das Konzept Sprache kann es so nicht begreifen.
Sprachdeprivation kann so die Sprachentwicklung in der Folge schwer beeinträchtigen.
4. Hat Sprachdeprivation auch Auswirkungen auf das Gehirn?
In den ersten Lebensjahren bilden sich jede Sekunde mehrere hundert neuronale Verbindungen im Gehirn. Dabei ist es dem Gehirn total egal, welche Sprache du ihm anbietest. Wichtig ist, dass es eine vollwertige Sprache ist. Und die fehlt leider sehr vielen tauben und schwerhörigen Kindern.
Fehlt der sprachliche Input in der kritischen Phase des Spracherwerbs, kann dies zu bleibenden Gehirnschäden führen. Dies ist auch als Sprachdeprivationssyndrom (SDS) bekannt. Hierbei kommt es zu komplexen neurologischen Entwicklungsstörungen.
SDS – Mögliche Einschränkungen von:
- Anhaltende Aufmerksamkeit
- Sich in andere hineinversetzen können
- Konzepte miteinander vernetzen
- Sich strukturieren
- Mustererkennung
- Erinnern von Fakten
- Erinnern von zeitlichen Abfolgen
Ja, Sprachdeprivation hat erhebliche Auswirkungen – auch auf das Gehirn!
5. Was sind die sozial-emotionalen Folgen?
Das hängt stark davon ab, wie ausgeprägt und wie lange die Sprachdeprivation ist oder war. Studien zeigen einen Zusammenhang zwischen dem Mangel an sprachlichem Input und den emotional-sozialen Kompetenzen. Ist das sprachliche Angebot in der Kindheit nur kaum oder gar nicht vorhanden, kann das schwere Folgen haben.
Einige dieser Folgen ergeben sich aus der beeinträchtigten Gehirnentwicklung. Andere wiederum daraus, keine richtige Sprache zur Verfügung zu haben.
Leicht nachzuvollziehen ist sicherlich: Wer sich nicht ausdrücken kann, wird nicht verstanden. Und wer nicht verstanden wird, ist irgendwann frustriert, wütend oder deprimiert.
Keine Beziehungen und Bindungen aufbauen zu können, bedeutet auch: isoliert und alleine sein. Klar, dass auch das wiederum emotionale Folgen hat.
6. Sprachdeprivation als Ursache für geringe Bildung?
Der Zusammenhang liegt nahe: keine Sprache = kein Verstehen = kein Lernen = keine Bildung.
Wird einem Kind nur eingeschränkt Sprache angeboten, kann es auch nur begrenzt in die Sprachentwicklung starten. Der Spracherwerb ist damit gefährdet.
Ohne Sprache wird dieses Kind Zusammenhänge nur schwer oder gar nicht verstehen. Wie soll es dann also lernen?
Gleichzeitig kommen ja all die beschriebenen sozialen und emotionalen Folgen auch noch dazu. Dieses Kind wird also viele „Baustellen“ haben, mit denen es kämpft. All das steht auch einem Lernen mit Freude im Weg.
Bildung ohne Lernen? Das ist wohl kaum möglich. Und so schließt sich der traurige Kreis: Kinder, die in den ersten Lebensjahren wenig oder keinen sprachlichen Input haben, werden Erwachsene mit geringer Bildung.
Und das ist in den allermeisten Fällen absolut vermeidbar! Jedes Kind, jeder Mensch hat das Grundrecht auf Bildung. Doch wie soll das umsetzbar sein, wenn der Start schon so erschwert wird?
Deshalb ist das Recht auf eine vollwertige Sprache die Grundlage – nur so gibt es auch die Chance, Bildung zu erwerben.
7. Ist dein Kind gefährdet?
Dein Kind ist potentiell von all den oben beschriebenen Gefahren bedroht, wenn einer dieser Begriffe zutrifft:
- hörbehindert
- hörgemindert
- schwerhörig
- taub
- gehörlos
- hörgeschädigt
- hörgeschwächt
Es gibt noch mehr Worte, die alle das Gleiche meinen:
Dein Kind hört nicht (richtig). Und damit ist es gefährdet!
8. Was können wir gegen Sprachdeprivation tun?
Vielleicht bist du jetzt geschockt – weil dein Kind gefährdet ist? Oder du kennst ein anderes Kind, auf das das alles zutreffen könnte. Möglicherweise siehst du jetzt auch erst langsam, wo es überall Sprachdeprivation gibt?
Was können wir alle jetzt dagegen unternehmen?
Ärzte/Therapeuten/Fachpersonen
Viele unterstützen gefährdete Kinder bereits. Und das ist wundervoll. Wenn du einer oder eine von ihnen bist: Mach bitte weiter! Die Kinder brauchen dich!
Wenn du noch keiner von ihnen bist: Schließ dich ihnen an! Unterstütze Eltern, die Gebärdensprache erlernen wollen. Hilf Kindern, eine Sprache anzuwenden, die sie verstehen. Die für sie be-greifbar ist.
Bilde dich fort: Dann erkennst du, dass es längst etliche Studien gibt, die belegen, dass die Gebärdensprache den Spracherwerb – auch der Lautsprachen – unterstützt.
Hör auf, alte Märchen zu erzählen, die das Gegenteil behaupten.
Lerne selbst Gebärdensprache und sei ein Vorbild. Sicher willst du deine Patientinnen und Patienten verstehen – und: mit ihnen auf Augenhöhe sprechen.
Politikerinnen und Politiker
Setzt euch endlich für all diese Menschen ein! Sorgt dafür, dass jeder überall kommunizieren kann. Dass eine barrierefreie Kommunikation Standard ist:
- in Ämtern
- in der Öffentlichkeit
- in Kitas
- in Schulen
- in Betreuungseinrichtungen
- im Fernsehen
- bei Ärzten
- in Kliniken
- und überall, wo Menschen sind
Helft, mehr Gebärdensprachdozenten auszubilden!
Sorgt dafür, dass es gebärdensprachkompetente Lehrkräfte gibt!
Verankert gesetzlich den Anspruch auf Hausgebärdensprachkurse für Kinder mit Hörbehinderung und ihre Eltern – und auf Gebärdensprachkurse für die Familien.
Auch diese Kinder sind unsere Zukunft!
Eltern und ihre Kinder
Kämpft weiter für eure Kinder! Vernetzt euch und haltet zusammen! Ihr seid nicht allein!
Und: jede Gebärde zählt. Ich weiß genau, dass wohl kaum ein hörendes Elternteil gebärdensprachkompetent ist, wenn ihr schwerhöriges oder taubes Baby auf die Welt kommt. Ich weiß auch, wie viele Ängste all diese Eltern haben – weil ich die Situation selbst erlebt habe. Und ich kenne die Sorge, nie genug getan zu haben.
Schau, dass du in Kontakt mit anderen Eltern kommst. Hör dich um, wo du Gehörlose treffen und kennenlernen kannst. Sei offen für den Weg, den dein Kind wählt. Denn eines ist sicher: Keiner kann dir sagen, was sich für dein Baby später einmal richtig anfühlt.
Stärke dein Kind auf seinem Weg – höre ihm zu und fühle mit: Du bist die Expertin für dein Baby, der Experte für dein Kind. Und darauf darfst du vertrauen! Und wenn du unsicher wirst: Such dir kompetente Unterstützung – auch für dich, denn:
Dein Kind hat die gleichen Chancen verdient wie normalhörende Kinder!

Du fragst dich, welche Hilfen es noch für dein Kind gibt? Möglicherweise suchst du Entlastung? Oder willst dein Kind mehr fördern?
In den „Hilfen und Leistungen, die dir zustehen“ findest du die Antworten auf diese Fragen:
Alle hörenden Menschen
Egal wie alt du bist oder woher du kommst:
Lerne Gebärdensprache!
Wir erwarten immer wieder, dass Gehörlose mit uns sprechen – das muss aufhören. Sie können gar nicht hören, was sie sagen. Und was du sagst, können sie auch nicht hören!
Die Gebärdensprache ist die einzige Möglichkeit, barrierefrei mit tauben Mitmenschen zu sprechen. Und wir Hörende können sie lernen. Niemand erwartet, dass du perfekt gebärden kannst. Das kann ich auch bei weitem nicht und werde ich wohl nie erreichen.
Doch darauf kommt es nicht an. Ich habe eine Möglichkeit, mich zu verständigen. Mit Menschen, die mir wichtig sind, zu sprechen. Und die Welt ein bisschen verständlicher zu machen.
Mach mit – jede Gebärde zählt!
Und wenn du noch nicht gebärden kannst: Nutze Zettel und Stift oder dein Handy, um Gesprochenes in Text zu verwandeln. Auch so ist es meist für Gehörlose leichter, zu kommunizieren. Ein erster Einstieg kann auch das Fingeralphabet sein.
Du willst auch noch andere Wege zur Kommunikation testen? Dann schau dir auch an: